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Fröstelnd durch Seoul

Gestern hatte ich meinen Pulli schnell ausgezogen, und musste ihn dann den ganzen Abend mit rumtragen. Darum entschied ich mich heute für Weste statt schwerer Jacke – was sich als ganz dumme Entscheidung herausstellte: Es hat heute nur 5 Grad, und am Vormittag weht ein eisiger Wind vom Meer. Den ganzen Tag zittere ich trotz warmen Pullis und der vielen Schritte, die wir machen.

Wir starten mit einer Busfahrt zum Gyeongbokgung-Palast. In der Stadt gibt es fünf Paläste, dieser ist der Größte und er wurde ursprünglich im 14. Jhdt. erbaut. Nach mehrfachen Zerstörungen und Wiederherstellungen ist er im aktuellen Zustand erst 30 Jahre alt, das fällt aber nicht auf. Hier angekommen wird uns klar, wie bergig die Gegend ist, über 300 Meter sind die Gipfel der in der Stadt verteilten Hügel, bei einer nur wenig über dem Meer liegenden Stadt.

Als wir eintreten wollen, werden wir erst einmal von Ordnern verscheucht. Ein wenig verwirrt treten wir vom Eingang weg, aber nach kurzer Wartezeit wird klar, warum: Es ist Zeit für die Show! Ein Reenactment der Wachablösung wird gespielt, aus einem Lautsprecher brüllt die Erklärung blechern in koreanisch, englisch, und japanisch. Ein wenig zu sehr Disney-Show für mich, aber es passt zu Korea. Das ganze Land scheint aus Instagram-Models und Cosplayern zu bestehen, schon kleine Kinder laufen oft mit Kostümchen oder als Bärchen verkleidet rum, und wenn ich die jungen Mädchen im Minirock ohne Strümpfe sehe, dann kriege ich aus Mitleid Blasenentzündung!

Hier am Palast ist das nochmal verstärkt, denn wer in traditioneller Kleidung erscheint, bekommt freien Eintritt. Rund um den Palast kann man überall die Hanboks stundenweise leihen, und es tragen ähnlich viele Koreaner ihre Tracht wie Bayern auf der Wiesn.

Während ich mir überlege, mir eine Wolldecke zu kaufen, weil mir so kalt ist, läuft an mir ein Europäer in kurzen Hosen vorbei: Das ist hundertprozentig ein Schotte, kurze Hose im Winter und Wadentattoo ist schottischer als ein Kilt!

Neben dem Palast ist noch in einem tempelartigem Gebäude das National Folk Museum, das wir aber überspringen. Östlich an den Palast und das Museum angrenzend ist ein Teil der Altstadt mit traditionellerer Architektur, und kleinen Straßen und Gässchen. Hier finden wir ein schickes Designercafé zum Brunchen, das merkt man auch am Preis, nur leider ist alles etwas fad.

Das Bukchon Hanok Village ist aber sehr schön, vor allem der Kontrast zwischen den kleinen Häusern hier und den Hochhäusern im Hintergrund zeigt den rasanten Aufstieg des Landes. Die Häuser sind alle bewohnt, und darum erinnert an jeder Straßenecke ein Schild daran, dass Touristen hier nachts nicht erwünscht sind, 100.000 Won (60€) Strafe kostet ein Betreten der Gegend als Nicht-Anwohner.

Ich bin immer noch hin und weg von der Farbpracht der Bäume hier im Herbst, die gelben Gingkos und die rostroten Ahorne lassen die ganze Stadt leuchten! Säckeweise wird das fallende Laub vor allem der Gingkobäume hier zusammengekehrt, ein einzelner Baum kann bis zu 200.000 Blätter verlieren – und die stehen hier alle paar Meter.

Als Kind hätte ich hier meine heile Freude gehabt durch das Laub zu rennen und es in die Luft zu werfen! Heute machen das die Erwachsenen, für die das ein Insta-Shot ist. Tipp: Hochwerfen und im steilen Winkel von unten knipsen lassen – die Koreaner kennen sich da aus! Schmunzelnd sehen wir einen Mann in unserem Alter im Anzug, der sich von seine Frau ablichten lässt.

Marc trifft zu und, und wir wollen noch einen zweiten Palast besuchen, aber der hat Montags geschlossen. Stattdessen laufen wir durch den Schlosspark und kommen weiter südlich zum Cheonggyecheon-Bach, in dem ein Reiher aufgeplüstert genauso friert wie ich.

Den weißen Walker zwischen den Bäumen hätten wir beinahe übersehen, wir sind aber auch von dem sehr leckeren Apfel abgelenkt, den wir uns am Straßenrand gekauft haben. Marc hat uns das bereits erzählt, die Preise für Essen sind extrem hoch, wir zahlen über 2€ für den Apfel. Im Vergleich zu den Restaurants, wo die Hauptgerichte meist um die oder unter 10€ kosten ist das ganz schön happig.

Mit einem Bus geht es jetzt auf den 270m hohen Namsan – das heißt "Südberg", denn er ist im Süden des historischen Stadtzentrums. Der Fahrer ist flott unterwegs, und man muss sich sehr gut festhalten um nicht in den Kurven umzufallen, eine Mutter wird von ihrem erwachsenen Sohn aufgefangen, als es zackig um die Kurve der steilen Straße geht. Von hier oben erkennen wir erstmals die Größe dieser Stadt: Von Horizont zu Horizont stehen die Hochhäuser wie Dominosteine, der Ballungsraum Seoul ist flächenmässig sogar noch ein klein wenig größer als Los Angeles County, aber hat fast drei Mal so viele Einwohner. Mit 26 Millionen Menschen leben knapp halb so viele Menschen wie in ganz Spanien allein in diesem Ballungsraum. Ich bin ernsthaft erstaunt, dass trotz des verhältnismässig kleinen U-Bahn-Netzes der Verkehr nicht komplett kollabiert.

Auf dem Hügel kann man dann weitere Höhenmeter machen, indem man auf den Namsan Seoul Tower, dem Fernsehturm fährt. Auf 480 Meter über dem Meer ist man aber immer immer noch fast 150 Meter unter dem Lotte World Tower. Lotte ist einer der größten koreanischen Konzerne, und sein Gründer war Fan von Goethe; vor allem Charlotte aus "Die Leiden des jungen Werther" hatte es ihm angetan. Es ist schon erstaunlich, wie weit Kultur schon vor dem Jet-Zeitalter gereist ist! Was Goethe wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass seine Romanheldin heute allgegenwärtig in Korea ist, einem Land, von dessen Existenz er vermutlich keine Ahnung hatte. Selbst einen Burgerbrater namens Lotteria gibt es hier.

Im Tower sind an den Panoramafenstern die Entfernungen zu anderen Städten markiert, ich habe mal willkürlich ein Fenster ausgewählt.

Der Posing-Wahn der Koreaner wird auch hier unterstützt, wie überall in der Stadt gibt es auch hier eine Fotokabine ("Don't lxxk up", in der die Kamera in der Decke ist), in der man für Gebühr Selfies machen kann. Selbst aus der Toilette hat man einen tollen Ausblick!

Wieder unten am Gipfel des Namsan ist eine riesige Ansammlung von Liebesschlössern, jeder vermarktbare Trend wird hier zelebriert ;-).

Um nicht wieder Kamikaze-Bus fahren zu müssen, nehmen wir die Seilbahn herunter, und laufen noch ein bisschen durch – und unter – der Stadt. Hier gibt es unter den Kreuzungen in den Unterführungen wie in Tiflis Basare. Man vermeidet damit nicht nur die Ampeln, man kann sich auch ein wenig Aufwärmen hier unten.

Oben sind wie überall große Werbebildschirme, aber an der Shinsegae Mall wird es grotesk: Fast 72 Meter breit und 18 Meter hoch ist der extrem brillante 8K-Bildschirm ("Media Façade"), auf dem jahreszeitbedingt natürlich Weihnachtswerbung läuft. Das ist ein echter Hingucker, und das Filmchen ist gut produziert – es entsteht sogar durch Tricks wie die künstlichen Fassadenelemente im Rahmen ein leichter 3D-Effekt. Ich muss an den 3D-Hai aus "Zurück in die Zukunft II" denken, der Marty dort so erschreckt – wir sind davon nicht mehr weit entfernt!

Zum Abendessen gehen wir mir Marc und zwei seiner sehr netten Freundinnen noch in ein Korean BBQ, wo man Fleisch und Gemüse am im Tisch integrierten Kohle-Grill brät und mit Kimchi isst. Kimchi ist extrem lecker, ich mag Chinakohl sowieso, aber fermentiert und in Soße schmeckt das richtig gut.

Gut verköstigt fallen wir ins Bett, aber mitten in der Nacht bin ich mal wieder hellwach. Jetlag ist lästig!

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